Aus Kolonisten werden Aussiedler
Im Jahr 1871 wurden die zugestandenen Privilegien aufgehoben. Dies hatte zum einen eine Abwanderung nach Sibirien (wo unter weniger strenger Handhabung der Gesetze Ansiedler gesucht wurden), zum anderen die Auswanderung nach Kanada, den USA und nach Südamerika zur Folge.
Nach der Revolution (1917) begann ein Vernichtungsfeldzug gegen alles Deutsche. Sowohl der zarentreue (vorwiegend baltische) Adel als auch das "kapitalistische" liberale Bürgertum sowie die kollektiv-feindlichen bäuerlichen Kolonisten wurden schlimmsten Pressionen ausgesetzt.
Der Kampf gegen die "Kulaken" (= Mittel- und Großbauern) unter Stalin (1928/29), der nicht zuletzt die Ausrottung der deutschen "Dorfkapitalisten" bezweckte, war ein weiterer Höhepunkt dieses Feldzuges.
Den beiden verheerenden Hungersnöten jener Zeit (1921/22 und 1932/33) fielen auch ca. 350 000 Deutsche zum Opfer. Die einschneidenste Zäsur brachte der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Neben der Vertreibung der Deutschen von der Krim und aus dem Südkaukasus hatte vor allem die Auflösung der nach dem 1. Weltkrieg gegründeten Deutschen Wolgarepublik härteste Konsequenzen. Rd. 400 000 Wolgadeutsche wurden nach Kasachstan, in die Kulundasteppe und ins Altaigebiet deportiert. Dabei trennte man die Männer meist von ihren Familien und verschleppte sie in andere Gebiete.
Bis in die 60-er Jahre wurden Rußlanddeutsche in der berüchtigten Trudarmee (Arbeitsarmee) eingesetzt; viele kamen dabei um. Die entwurzelten und völlig entrechteten Deutschen wurden in den Verbannungsgebieten unter Sonderkommandantur gestellt, d.h., sie durften sich über ein bestimmtes Gebiet nicht hinausbewegen. Frauen mußten als Holzfällerinnen und in Bergwerken schwerste Arbeit verrichten. Um zu überleben, wurde die Herkunft möglichst verschwiegen. Viele verlernten ihre Muttersprache, deren Benutzung unter Strafe stand.
Die Amnestie von 1955 und das Dekret von 1964 (Rehabilitierung der bis dahin als Kriegsverbrecher geltenden Rußlanddeutschen) brachten einige Erleichterungen, so z.B. eine Lockerung des Verbots, die deutsche Sprache zu pflegen. Niemand durfte jedoch in die einstige Heimatgemeinde zurückkehren und auf alle Ansprüche bzgl. des konfiszierten Vermögens mußte verzichtet werden. Die sowjetische Volkszählung von 1959 wies 1,62 Mio Rußlanddeutsche aus (90% davon im asiatischen, 10% im europäischen Teil der UdSSR); seit 1970 wurde eine Zahl um 2 Mio genannt. Durch die verstärkte Aussiedlung seit 1987 ist diese Zahl aber nicht mehr realistisch.
Im Zuge der allgemeinen Liberalisierung in der ehemaligen Sowjetunion durften sich auch die Deutschen wieder organisieren. Sie gründeten 1989 die Gesellschaft "Wiedergeburt", die sich - leider vergeblich - vor allem für die Rückkehr an die Wolga einsetzte. Heute gibt es in Rußland, Kasachstan und Kirgisien funktionierende Organisationen der deutschen Minderheiten. Sie geben Zeitungen heraus, betreiben Sonntagsschulen und Theater, pflegen deutsche Traditionen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat gegenüber den Rußlanddeutschen aus historischen und politischen Gründen eine Fürsorgepflicht. Sie fallen unter das "Kriegsfolgenbereinigungsgesetz". Bei Nachweis von deutschen Vorfahren haben sie Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft - mit allen Rechten und Pflichten.
Trotz der veränderten politischen Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion möchte ein großer Teil unserer Landsleute dieses Recht in Anspruch nehmen, denn sie fühlen sich durch religiöse und ethnische Feindseligkeiten stark bedrängt. Für ihre Kinder sehen die Eltern keine Zukunftsperspektiven. Auch die Einrichtung von deutschen Rayons (im Altaigebiet und um Omsk) ändert an dieser Einstellung nicht viel.
In den vergangenen Jahren haben Millionen Rußlanddeutsche ihre alte Heimat verlassen. Die Zahl der einreisenden Spätaussiedler liegt derzeit bei ca. 7.000 pro Jahr.